Nach 15 Kilometern hinter Kuressaare biegen wir nach Kaali ab. Ein sehr kleiner Ort, wegen mehrerer Krater berühmt. Eine Kirche, ein kleiner Laden, ein Café, ein Sowjetzeit-Gebäude mit einer Handarbeitsausstellung, darunter sehr schöne gestrickte (!) Spitzensachen. Hinter dem Infohäuschen geht es einen bewaldeten Hügel hoch und dann sehen wir von oben in einen kleinen Kratersee, wegen der seit drei Monaten anhaltenden Trockenheit nicht so voll wie wo sonst. Die naturverbundenen Esten haben ihm früher den Namen Pühajärv – Heiliger See – gegeben.Sieht schon etwas mystisch hier aus. Inzwischen ist belegt, dass dieser und noch einige kleinere Seen drumherum durch einen Meteoriteneinschlag entstanden sind. 1937 fand ein Bergbauingenieur einige Splitter davon.

Wieder auf der Hauptstraße sehen wir zwei junge Frauen mit Rucksäcken, die den Daumen rausstrecken. Wir überlegen noch, jetzt halten sie den Daumen hoch für unsere Minna und wir stoppen. Sie rennen herbei, strahlen und Rucksäcke und Zelt landen im Auto. Sie wollen wie wir auf die nächste Insel Muhu (Mond) und wir verbringen zusammen eine interessante Fahrt. Plötzlich ist auf der linken Seite ein „Achtung! Kängeru!“-Schuld zu sehen. ??? Dann folgt ein Zebra-Baum. Und schließlich der Hinweis auf einen kleinen Zoo… Die beiden jungen Estinnen sind Studentin bzw. Mitarbeiterin bei einer Umwelt-NGO und machen einen spontanen Hippie-Urlaub im Zelt. Wir sprechen auch über das Russen-Esten-Problem. Die estnischen Russen haben ja keinen estnischen Pass, sondern nur einen Nicht-Bürger-Ausweis. Damit können sie beliebig nach Russland rein, sind aber eben auch keine Voll-Bürger Estlands. Sie erzählen, manche Russen sagen, dass die Esten eben russisch lernen müssen. Nun ja… Voraussetzung für den estnischen Paß ist die Beherrschung der estnischen Sprache. Sehe ich ein. Viele Russen geben ihre Kinder inzwischen auch in estnische Kindergärten, damit sie zweisprachig bzw. mit Englisch dreisprachig aufwachsen und so später auf dem Arbeitsmarkt in Estland gute Chancen haben. Wir wissen, dass die estnischen Russen auf keinen Fall wieder an Russland angegliedert werden, sondern in der EU bleiben wollen. Verstehe ich gut! Auf dem Weg nach Tallinn hatten wir das Gefühl, durch ein modernes Russland zu fahren. Einen Standard wie in Estland in diesem riesigen Land zu haben wäre ein Traum! Übrigens, Estland steht oder stand mal auf Platz 3 in der Pisa-Studie. Englisch lernen beginnt schon im Kindegarten. Jeder spricht englisch!

Saaremaa und Muhu sind durch einen 6 km langen Damm verbunden. Wenn man nicht aufpasst, kriegt man gar nicht mit, dass eine neue Insel kommt. Wir verabschieden uns herzlich, als wir wieder festes Inselland unter den Füßen haben. Auch hier gibt es in Liive eine einschiffige Kirche ohne Glockenturm. Wir finden für die Nacht einen zauberhaften Stellplatz vor Raugi am Meer. Das Frühstück ist genauso schön.

Heute Morgen regnet es. Wir fahren eine Dreiviertelstunde mit der Fähre für 11,80 € zurück aufs Festland. Im Hafen von Virtu liegt der Reichtum Estlands – Holz.Wir wollen nach Pärnu, der Sommerhauptstadt Estlands. Und entdecken eine gemütlicheStadt mit modernen Geschäftshäusern, alte Holzhäuser mit Garten, viel Platz eben. Wir landen direkt am Meer. Wenig Betrieb, die Parkplätze sind fast leer. Von dem Platz und den vielen geschlossenen kleinen Buden her kann ich mir aber sehr gut vorstellen, dass hier bei Sommerwetter die Post abgeht. Wir wollen ans Wasser, es herrscht wohl Windstärke 6-7. Und dann sehen wir die Kite-Surfer, die mit rasender Geschwindigkeit über das Wasser schießen. Die Surfer sind schon klasse, sie springen hoch in die Luft, halten das Brett mit einer Hand fest und jagen weiter. Toll! Namkha ist glücklich, sie rennt mit fliegenden Ohren hin und her über den Strand, wilde Kurven schlagend, der Schwanz steht hoch oder geht wie verrückt hin und her. Ein kleines Surfercafé ist geöffnet. Mit Latte in der Hand beobachten wir die Surfer durch die regennassen Scheiben.

Es ist doch noch kalt geworden. Rein in die Minna, heißen Tee mit Plätzchen auf den Tisch und lesen.

Strahlend blauer Himmel, gelegentlich ein paar Regentropfen. Ohne Wind wäre es ganz schön warm. Wir gehen ans Wasser und laufen bis zu der kleinen Sandbank. Namkha holt den dicken Stock immer wieder, bis es ihr reicht.

Wir schauen uns die schöne Altstadt von Pärnu an. Immer dasselbe: Holzhäuser, Kirchen, Parks, hier kommt noch eine schöne Fußgängerzone dazu. Es wird viel restauriert. In besagter Straße zeigen Planen vor alten Häusern, wie es dort zu den alten Zeiten ausgesehen hat. Wir geniessen den Tag hier.

Nach Süden, immer an der Küste lang. Vom Wasser sehen wir nur wenig. Manchmal führt die Straße durch Wald, in dem wir hin und wieder mehr oder weniger alte Holzhäuser sehen. Oder es gibt keinen Wald, dafür aber Häuser mit großen Gärten. Dahinter stehen dann breite Schilfgürtel. Ich frage mich, ob es hier kein Gesetz wie bei uns gibt, ein paar Meter bis zur Wasserkante als öffentlichen Weg freihalten zu müssen. Dann finden wir eine Lücke, eine kleine alte Hafenanlage an einem Fluss, der durch den breiten Schilfgürtel ins Meer führt. Die Sonne verschwindet immer mal wieder hinter dicken Wolken, es regnet ein bißchen, wir trinken Tee.

Abends fahren wir noch ein Stück. Im Wald zeigt plötzlich ein Schild einen Minicampingplatz an. Wiese, ein alternativ dekoriertes Bloghaus mit Windspiel und Gartenpuppen, Holzhäuschen, Massen von Spielgeräten, 2 WoMos. Wir bleiben und schlafen.

Am nächsten Morgen entdecken wir den Boss der Anlage aus einem der WoMos: ca. 60 Jahre, mit unglaublicher Plautze im Minihöschen, die grauen langen Haare (noch) unter einem Piraten-Kopftuch versteckt. Spricht deutsch, englisch, finnisch, russisch. Nett und sehr geschäftstüchtig. Alles ist da, was wir brauchen. Wir bleiben. Neben uns steht ein WoMo aus Hückelhoven… Dieter, 80 Jahre alt, was wir kaum glauben können, aus dem Westen und seine Doris aus dem Osten. Gesucht und gefunden. Lebens- und reiseerfahren, mit Kindern und Enkeln. Dazu noch Napoleon, Jack Russel und strotzend vor Lebenslust. Wir verstehen uns sofort alle prächtig! Doris schenkt mir gleich einen Reiseführer vom Baltikum, den sie doppelt hat. Namkha und Nappi spielen stundenlang. Ich stecke die Flasche armenischer Sekt in den Kühlschrank.

Wir wollen unserem Hund was Gutes tun und fahren mit dem Fahrrad rechts die Straße runter, wo sich, wie wir erfahren haben, ein kleiner Laden mit Café befinden soll. Nach 2 km finden wir ein Café. Sieht sehr geschlossen aus! Wir fahren weiter. Und weiter und noch weiter. Eine entgegenkommende Fahrradfahrer erzählt uns, in ca. 4 km gebe es eins. Wir schauen unseren Hund an, der neben uns her trabt. Wir hatten schon überlegt , dass Alex zurückfährt und die Minna holt, weil unserer Süßen die Zunge weit aus dem Hals hängt. Just setzt sie aber gerade zum Spurt in den Wald an, aus dem sie ein interessanter Duft erreicht hat. Alles klar, weiter. Wir fahren, finden das Café, verbunden mit einem kleinen Laden, kriegen was wir brauchen und fahren zurück. Namkha hatte zwischenzeitlich mit einem großen Rüden rumgetobt. Wieder auf dem Campingplatz spielt sie gleich mit Nappi weiter. Wir haben wir 17,4 km zurückgelegt! Und einen vollkonditionierten Langsteckenhund! Als es dunkel ist, ziehen wir mit unserer kalten Flasche rüber. Die Nacht wird lang. Dieter hat eine hochinteressante Bergbauvergangenheit, kennt die RWTH und erzählt fst unglaubliche Geschichten aus der Zeit, als auf der Zeche Sophia-Jacoba in Hückelhoven noch Kohle rausgeholt wurde. Doris hat eine DDR-Vergangenheit, beschreibt das Leben dort mit seinen vielen Einschränkungen und vor allem ihren eigenen Weg in die Selbständigkeit in der Zeit nach der Wende. Nicht einfach, aber nach 29 Jahren außerordentlich erfolgreich! Der sehr leckere Sekt wird durch Aperol ergänzt. Dieter verschwindet laufend im Dunklen, um uns mit neuen Eiswürfeln zu versorgen. Nach dem dritten oder vierten Aperol mach ich ein Foto von den beiden… Alex bleibt nüchtern wie immer. Es wird richtig spät!

Am späten nächsten Morgen empfinde ich leichte bis mittlere Schwindelgefühl, die aber erfreulicherweise später verschwinden. Die Wäsche trocknet bei Sonne und Wind wunderbar, der Blog schreibt sich fast von selbst. Später machen wir noch eine kleine Kaffeefahrt, diesmal links rum. ein Kilometer weit, dann gibt’s Kaffee, später gehen wir noch ans Meer. Hinten am Strand liegt ein interessantes Hotel. Ich nehme mir ein sonnengetrocknetes Stück holz, eine Möwenfeder, etwas Kefernrinde und Heidekraut zur Erinnerung an Estland mit.

Abends gibt es noch eine deutlich reduzierte Variante des vorherigen Abend mit einem feinen Fläschchen Wein.Wieder sehr nett! Alex überrascht mich mit einen leeren Bierkasten, den er dem sehr geschäftstüchtigen Campingplatzbesitzer abgeschwatzt hat. So sweet! Haben wir doch auf dieser Reise – bei aller Aufmerksamkeit und konzentriertem Mitzählen – schon wieder 3 Hocker verschlissen! Das ist doch mal ein estnisches Souvenir! Der Althippie erzählt uns noch auf unsere Fragen, dass die ganzen Holzhäuser, die wir hier in der Gegend sehen, nur noch als Wochenendhäuser genutzt werden. Arbeiten tun die Menschen hier fast ausschließlich in den Städten.

Wir trennen uns ungern von unseren drei Nachbarn, aber Hückelhoven ist ja nicht aus der Welt, wenn sie denn mal zuhause sind. Estland ist einso schönes Land! Der weite Himmel, die Landschaft,  die alten Holzhäuser, die gemütlichen Städte mit den schönen Altstädten, das Meer. Die Leute sind sehr freundlich, sie sprechen bis auf die nordöstliche Ecke alle Englisch. Und das ermöglicht Verständigung für uns! Wir sind sehr begeistert! Auf Wiedersehen?