Blauer Himmel, leichter Wind, weit hinten auf dem Meer fahren ein paar große Schiffe entlang. Ein paar Kinder kommen auf ihren Fahrrädern, werfen sie in den Sand, ihre Kleider dazu und springen ins Wasser. Namkha buddelt im Schilf. Es fällt uns schwer, weiterzufahren.

Wir wollen auf die Inseln! Dazu rauschen wir auch mal eine gut ausgebaute Straße entlang. 30 km hinter Tallinn sehen wir plötzlich Staubwolken über einem Gelände, das mit er Erdhügeln zur Straße hin abgeschottet ist. Alex setzt zurück, wir fahren in den Weg rein und entdecken den Laitse Rallypark. Offensichtlich können hier Privatleute mit ihren PKWs durchs Gelände heizen. Viel zu sehen ist leider nicht.

Dafür sehen wir 20 km weiter bei Turba ein Hinweisschild mit der Aufschrift: Momu Mootorispordi muuseum. Unser! Ein kleiner Ort, viele Häuser im Sowjetstyle. Einmal abbiegen, noch mal abbiegen, dann stehen wir vor einem alten Fabrikgebäude. Gegenüber ein kleines Containercafé mit Sonnensegeln, vielen bunten Stühlen, Sofas und Hängematten. Später!

Alex ist begeistert. Eine beeindruckende Sammlung alter russischer Autos, darunter ein paar Knutschkugeln, die heute bei uns zu guten Preisen gehandelt werden. Es ist erstaunlich, daß in einem sozialistischen Staat, in dem die Voraussetzung für Motorsport extrem begrenzt waren, Menschen durch Eigeninitiative in Form von technischem Wissen und handwerklichen Fertigkeiten zusätzliche Maschinenteile bauen und damit die wenigen dort produzierten Fahrzeuge noch als Renngefährten aller Art nutzen konnten! Aus den leider nur auf estnische vorhandenen Informationen erkennen wir, dass in Estland schon seit 1926 Motorsport betrieben wurde wurde. Klasse!

Und dann rüber ins Café und Kaffee genossen. Die junge Frau in indischer Schlabberhose bietet uns Schweinepastete auf selbst gebackenen Brot an. Ich erwarte eine dicke Scheibe Pastete auf einer dünneren Scheibe Brot, wir erhalten eine dünne Scheibe, dafür auf dickem Brot. Aber alles sehr lecker. In einem kleinen Ort unterwegs entdecken wir mit Russland-geschultem Kennerblick noch einen kleinen Laden und kaufen noch ein bisschen ein.

Vor Taebla führt die Straße in einem kleinen Ort an einigen alten Dampflokomotiven vorbei. Wir entdecken einen schönen alten Bahnhof. Das scheint ein Eisenbahnmuseum zu sein. Alex misst die Spurbreite, 1520mm, sie ist mit der von Finnland kompatibel. Das ist auch die Spurbreite von Russland,das zusätzlich noch eine Breitspur mit 1829 mm hat. Bei der Bundesbahn beträgt die Spurbreite 1435mm.

Hinter Haapsalu kommen wir durch den Wald und Seen vor uns die Ruine eines ehemaligen sicher sehr schönen gewesenen Herrenhauses vor uns, Ungru Manor. Es wurde im 19. Jahrhundert im neobarocken Stil erbaut, das Vorbild dazu steht in Merseburg am Bodensee. Dahinter steckt eine unglückliche Liebesgeschichte. Ein Adeliger der Gegend verliebte sich in eine junge Frau, die aber nicht bereit war, das besagte Schloss ihres Vaters in Merseburg zu verlassen. In Estland nachzubauen. Er versprach, es ihr in Estland nachzubauen.Als es gerade fertig war, erfuhr er, dass sie gestorben war. Das Haus wurde nie bezogen, ein Drittel diente später den Sowjets als Baumaterial für ihren daneben liegenden Flughafen.

Im Spätnachmittag erreichen wir die Fähre in Rohuküla, die uns auf die Insel Hiiumaa bringt. Für 21,50 € fährt unser Schiff in 1 Stunde 15 Minuten rüber. Von Calais bis Dover würde uns der Spaß für anderthalb Stunden mindestens 150 € kosten!

Hiiumaa hat Wald ohne Ende. Wir stellen uns in Kärdla an den Yachthafen. Wie sich herausstellt, ein Stellplatz, mit Dusche, Sauna, Waschmaschine und schicker Bar. Auf ein letztes estnisches Bier! Wir sehen noch ein Wohnmobil aus Göttingen und genießen den Sonnenuntergang.

Morgens besichtigen wir die Boote im Hafen, darunter ein schönes zweimastiges Holzboot. Wir treffen den Göttinger, der mit seinem Wohnmobil schon weit rumgekommen ist, und das Baltikum und Russland noch aus den Zeiten der Sowjetunion kennt. Er erzählt uns Schauergeschichten!

Wir wollen den beschriebenen Zauber des Inneren von Hiiumaa erleben und fahren quer über die Insel. Tannen, Birken, Piste, Pilzsammler, noch mehr Tannen und Birken und Piste, Piste, Piste. Der Zauber hat sich uns nicht so recht erschlossen… Nach 25 km und einer guten Stunde erreichen wir wieder richtige Straße. Auf dem westlichen Zipfel der Insel steht der Köpu-Leuchtturm. Ein mächtiger Bau, der vor 500 Jahren hier gebaut wurde, weil an dieser Küste voller Klippen so viele Schiffe verunglückten. Die hanseatischen Kaufleute beschwerten sich. Der Magistrat von Tallinn stimmte um 1500 zu. Der Bau begann, blieb aber dann viele Jahre wegen eines der Pestausbruchs liegen. 1531 stand die erste Version des Leuchtturms. Der jetzige ist 68 m hoch und hat natürlich keinen Leuchtturmwärter mehr. Bei der elektrischen Ausstattung des Turmes scheinen die Franzosen mit im Spiel gewesen zu sein… Alex hat sich die steile glitschige enge Treppe hinaufgetraut und erhält dafür einen fabelhaften weiten Blick bis ans Meer. Ich bewundere ihn von unten.

Von Söru setzen wir mit der Fähre nach Saaremaa rüber. Da zuerst die ganzen Autos, die gebucht haben, aufs Schiff gewunken werden, sehen wir unsere Fälle schon schwimmen. Vor uns steht der Göttinger, wir trinken Tee zusammen. Schließlich fängt unsere Reihe auch an zu rollen, aber nur kurz. Dann werden einige Autos aus der Reihe gewunken und auf der Fähre ineinandergeschoben. Wir sind auch dabei, der Göttinger muss stehen bleiben, zu breit. Als vorletztes Gefährt kommen wir noch auf Schiff.

Hinter Leisi biegen wir in eine kleine Straße und kommen an einer orthodoxen Kirche vorbei. Wir wollen uns noch eine Kirche ohne Kirchturm anschauen. Mitten auf dem Land. Schönes Licht.

An der Hauptstraße stehen plötzlich einige Windmühlen vor uns. Die Insel ist berühmt für ihre Mühlen. Dahinter auf einem Feld arbeitet noch ein Mähdrescher. Wir sehen, dass er Getreide schneidet, das nicht höher als 20 cm sein kann. Das kleingeschnittene Stroh verstreut er hinter sich wieder auf dem Feld.Haben wir auch schon in Russland vor der estnischen Grenze gesehen. Die neue Lösung statt verrottender Strohballen auf dem Feld?

Die Kirche von Karja wurde Anfang des 14. Jahrh. gebaut. Um 12:00 Uhr soll sie geöffnet werden, um zehn taucht der Pastor im schwarzen langen Kleid mit ebensolcher Kopfbedeckung auf, wie der alte Propst vor 50 Jahren in Telgte. Er geht schnellen Schrittes mit dem Meßgewand über dem Arm in der Kirche. Wir warten ab. Irgendwann kommen ein paar Autos, Leute steigen aus. Oben am Giebel der Kirche läutet eine Glocke. Alle gehen rein, wir hinterher. Die ganze Kirche ist mit Kerzen beleuchtet, es duftet nach Lilien. Dann sehe ich sie, große Sträusse vor dem Altar und dem Chorgestühl. Der Pastor von kräftiger Statur wird von einem erwachsenen Messdiener unterstützt. Mit uns stehen neun Leute in den Bänken…. Und dann erleben wir ein estnisches Hochamt, oben bei der alten Orgel singt ein Chor, der gegen den dröhnenden Bariton des Pastors kaum ankommt. Die Messe findet mit Rücken zu uns statt, die Predigt kommt von der Kanzel. Alles schwungvoll vorgetragen. Zwischendurch geben sich alle die Hände, kommen auch zu uns und begrüßen uns sehr freundlich. Eines der Kirchenlieder kenne ich sogar. Nach der Messe schauen wir uns den Chorbereich genauer an. An der Decke finden sich heidnische Symbole – kommt nicht von mir. Die Gewölbe der kleinen Kirche sind zweieinhalb mal höher als die Wände und sie enthält viele aus Stein gemeißelte Skulpturen. Ich bin beeindruckt. Als wir die Kirche verlassen, verabschiedet uns der Pastor wie alle Besucher mit einem festen Händedruck..

Als wir wieder auf die große Straße fahren, treffen wir wieder auf die Windmühlen. Wir erkennen, dass hier alte Windmühlen wieder aufgebaut wurden. Dazu gibt es eine Ausstellung mit alten landwirtschaftlichen Geräten, und ein kleines Café, gebaut in hellem Stein. Ich entdecke eine alte Dreschmaschine, wie ich sie in den sechziger Jahren im Münsterland noch im Betrieb erlebt habe. Alex guckt Trecker und ersteigt eine Windmühle. Ich kaufe mir einen kleinen Steinmörser und erfahre, dass es sich um Dolomitgestein hier aus der Gegend handelt. Sieht toll aus. Als ich zur Minna gehe, um mein vergessenes Geld zu holen, treffe ich auf ein paar ältere Esten, die unser Auto klasse finden und die Karte bewundert haben.

Unterwegs wollen wir Namkha auf einem Feld laufen lassen und sehen ein schönes reetgedecktes Haus.

Schließlich kommen wir in der Hauptstadt der Insel, Kuressare, an. Klein, überschaubar, viele Holzhäuser, die große Straße, die in die Stadt führt, ist gesperrt, wir müssen einen Umweg fahren. So kommen wir schließlich wieder ans Meer, wo in einem Park die alte Bischofsburg von Kuressare steht. Sie wurde im 14. Jahrhundert gegründet ist eine der am besten erhaltenen mittelalterlichen Burgen Estlands.

Am späten Nachmittag sehen wir am Stadtrand den Hinweis auf einen deutschen Soldatenfriedhof. Wir denken an die Estin und fahren hin. Etwas versteckt gelegen sehen wir russische und deutsche Grabstätten, im Zentrum die beeindruckende Skulptur eines russischen Soldaten. Wir gehen durch die Grabreihen. Alex entdeckt per Zufall den Grabstein eines Soldaten mit dem Namen Clemens Herweg, geboren am 4.September 1909, gefallen wie alle anderen hier am am 29. Oktober 1944. Das trifft mich sehr. Der 35-jährige Clemens, der vielleicht eine Familie hatte und mein Vorfahr war, ist nie zu ihr zurückgekehrt ist.

Wir fahren sehr nachdenklich weiter.