Wir stehen vor einer ganzen Reihe von Mehrfamilienhäusern, viele Bäume, viele Garagen – direkt gegenüber dem Hafen von Astrachan. Männer, die angeln. Mehrere kleine Marineboote ziehen an uns vorbei, drehen im Hafen und stoßen riesige Wolken von verbranntem Schwerdiesel aus.

Wir fahren in die Stadt. Astrachan wurde von Iwan, dem Schrecklich 1558 gegründet und war die Nachfolgerin von zwei besiegten Hauptstädten, der Tataren und der Kasachen, deren Staatsreligion damals das Judentum war. Beide Städte waren erfolgreich, weil sie an der Seidenstraße und am Kaspischen Meer lagen. In den vergangenen Jahrhunderten trafen sich hier Osten und Westen. Heute ist davon übrig geblieben der Kremel, Kirchen, westliche Steinhäuser und gelegentlich persische und tatarische Holzhäuser und Moscheen.

Unser Ziel ist eine Touristenagentur, die Bootsfahrten ins Wolgadelta organisiert. Es geht an sowjetischer Pracht vorbei, schöne Kirchen, der Kremel, viele der alten Häuser sind vernachlässigt. Ich laufe die angesagte Straße rauf und runter, frage in eine kleinen Näherei, einer Bar nach. Die Reihenfolge derNummern scheint völlig durcheinander zu sein. Nach dem dritten Block gebe ich auf und gehe über eine Querstraße zurück zur Minna. Hier werden offensichtlich viele alte Häuser restauriert und wohl in Kneipen umgewandelt. Mit der Minna zielen wir dann Richtung Wolga und erreichen die sehr schöne Promenade – mit einem angepassten Parkplatz für uns. Vor uns steht ein alter VW-Bus T2, umgebaute Kaffeebar, den Mülleimer sicherheitshalber angekettet. Das nette Mädel hinter der Theke versteht den Wert ihres Kaffee-Autos überhaupt nicht. Latte Macchiato wird auch nicht verstanden, aber Espresso mit viel Milch auf jeden Fall. Schmeckt gut!

Alex wird von einem schnieken Russen auf einem Sportrad im Ami-Look angesprochen. Er denkt, es sei ein amerikanisches Rad, die Klingel ist chinesisch.. Wie sich herausstellt, ist er völlig verrückt nach alten deutschen Fahrrädern, er hat in seiner Wohnung fünf davon stehen und zeigt uns alle Bilder. Dann darf erst Alex eine Runde drehen, ich natürlich auch.

Wir wollen versuchen, tiefer ins Delta zu fahren und landen in Kamyzyak. Weiter geht’s wohl nicht für uns. Wir bleiben an einer schönen wohl neu gebauten Kirche stehen. Auf der Bank davor zwei Jungen, die freundlich winken. Alex geht mit Namkha spazieren. Ich versuche mich mit Hilfe des Navis zu orientieren. Alex ist noch nicht zurück und ich setze mich zu den Jungen. Sie sprechen kein Englisch, ich kein Russisch. Mit Hilfe meiner und ihrer Übersetzer-App können wir uns dann doch ganz gut unterhalten. Alex kommt zurück, ich verabschiede mich und wir gehen in Richtung Badestrand an einem der vielen Flüsse im Delta. Das ganze Jungvolk des Ortes scheint sich dort versammelt zu haben. Alex und Namkha schwimmen. Ich entschließe mich dann auch dazu, in Unterhose und BH. was für ein Anblick! Ich quietschende vor Vergnügen, als ich ins kühle Wasser tauche. Namkha ist begeistert! Das Jungvolk ist sehr mit sich selbst beschäftigt. Schließlich gehen wir zurück, vorbei an einem kleinen Denkmal für den großen patriotischen Krieg. In der Minna packen wir zusammen, als plötzlich eine große Gruppe des Jungvolks mit dem beiden Jungen von der Bank vor unserem Auto stehen. Ob wir stören (Übersetzer-App), nein gar nicht, wir sollten zusammen einen russischen Schlager singen, kennen wir aber nicht. Warum wir nach Kamyzyak gekommen sind. Zufall. Weiter geht’s über Fußball-WM, wie finden wir Russland usw. Und ein Selfie soll gemacht werden! Macht Spass!

Astrachan ist der westlichste Ort unserer Reise. Jetzt geht es von der schönen Wolga wieder nach Westen, nach Elista, der Hauptstadt der einzigen buddhistischen Republik in Russland und damit in Europa.

Ein Stück hinter Astrachan sehen wir an der Strecke ein kleines Café liegen, wir drehen bei. Im Vorgarten eingegraben zur Deko ein Kinderfahrrad. Wir bestellen bei der jungen Frau Kaffee. Ihr Vater – wie sich später herausstellt – kann gebrochen Englisch und fragt, vorher wir kommen. Er stellt uns eine Schale mit Äpfeln auf den Tisch, und als er hört dass wir Deutsche sind, ist er begeistert.Er liebt Deutschland! Und zwar so sehr, dass er uns gleich zwei riesige Melonen mit auf den Weg gibt und sich auch nicht darauf einlässt, es doch bei einer zubelassen. Zwei süße kleine Mädchen und ein Junge toben über die Terrasse. Die junge Frau betreibt das Café nur im Sommer, in der anderen Zeit lebtsie sonst in Astrachan. Die Eltern haben in den Nähe ein Haus und bauen Gemüse an. Ein herzlicher Abschied!

Weiter. Es wird mindestens so dröge wie auf der Sandstrecke nach Astrachan. Wir sind in der Steppe der Kalmücken angekommen! Ein ausgetrockneter See links, ein Salzsee? So viel Sand, dass es für eine Düne reicht.

Wieder ein Denkmal für den großen Krieg. Immer wieder treffen wir auf diese Denkmäler. Es ist wichtig, daran erinnert zu werden. Kein Land hat so viel ertragen müssen wie Russland – 20 Millionen Tote! Diese vielen Tote hier, überwiegend um die 20 Jahre alt, sind 1943 bei einer Panzerschlacht ums Leben gekommen. Ein Straßenhund – wovon lebt er in dieser Einöde? Er wirft sich sofort auf den Rücken, als Namkha kommt. Wir füttern und tränken, aber er ist nur an Streicheleinheiten interessiert. Als wir losfahren, stürzt er sich auf das Futter. Irgendjemand wird ihn versorgen, er sieht gut aus.

Es sieht lustig aus, dass immer wieder auf dieser leeren Straße am Horizont Schilder o.ä. auffallen, die sich beim Heranfahren als Zebrastreifen entpuppen, die zu den jeweiligen Wartehäuschen führen, beleuchtet von hohen Solar-Straßenlaternen mit großzügigen Schildern.Stundenlang Grassteppe, hin und wieder Schaf- oder Rinderherden. Und dann taucht am Horizont der erste Hinweis zum Budhismus auf: Om mani padme hum – auf Russisch natürlich.

Unterwegs fahren wir auf eine Kreuzung zu, links stehen einige Polizisten. Wir haben Vorfahrt. Plötzlich rennt einer der Polizisten mit ausgestreckter Kelle über die Fahrbahn auf unsere heranrauschende Minna zu. Alex geht in die Bremsen. Der Polizist rennt heran, er ist empört, will die Dokumente sehen. Er redet laut auf uns ein, ich sage mein „ Ja ni pani majua“. Er; „Rallye Dakar?“ und nun verstehen wir, die Minna war zu schnell. Unsere Reue ist angemessen, wir dürfen weiterfahren.

Es ist dunkel, als wir In Elista ankommen. Wir fahren einfach ins Zentrum der Stadt hinein und finden unter Bäumen einen schönen Standplatz. Es ist Samstagabend und ich will noch nicht ins Bett. So gehen wir denn über den großen Platz und finden uns plötzlich in so etwas wie einem Stadtfest wieder. Bunt, laut, viele Kinder, die auf kleinen elektrischen Autos herum sausen können, viele Fressbuden. Ich nötige Alex in ein kleines Restaurant und wir essen Dumplings, unser Favorit seit Nepal. Ist nichts anderes als eine weitere Variante von Pasta mit Füllung. Der bestellte Buttertee ist gewöhnlicher Milchtee. Naja. Zwei Katzen sind im Raum, Namkha nimmt sie wahr, aber zögert. Die Viecher haben eine ungeheuer selbstbewusste Ausstrahlung! Unser kluger Hund zieht es vor, sie sorgfältig zu beobachten. Ein Tisch mit Russen, einige mit Kalmücken, eine gemischte Gruppe. Aus der kommt ein junger Mann rüber und fragt in recht guten Englisch, woher wir kommen. Im Gespräch stellt sich heraus, dass er Flötist ist, er hat in Elista, Moskau und Riga studiert, liebt klassische Musik und Jazz und ganz besonders den Flötenlehrer von Friedrich dem Großen! Ich bin platt! Sein Freund kommt dazu. Ihre gemischte Gruppe ist eine NGO aus dem Ort, die sich um arme Familien kümmert. Ich bin noch mehr beeindruckt. Auf dem Heimweg begegnet uns noch eine rote Minna im Arbeitseinsatz.

Als wir aufwachen, entdecken wir, dass wir direkt am Hauptplatz – der heißt so! – von Elista stehen, vor uns wohl das Regierungsgebäude. Der Himmel ist bedeckt. Unsere Tür ist offen, nicht viel gucken. Ein Kalmücke grüßt sehr freundlich, English bad in school! Aber er findet unser Auto und unsere Reise toll! Dann kommt noch ein älteres Paar mit Enkelin, die nur auf Russisch völlig begeistert sind und sich die Minna genauer anschauen. Wir verstehen etwas von VW und sehen sie kurz danach in einem blauen LT-Diesel mit sechs Zylindern winkend an uns vorbeifahren. Der erste Kalmücke kommet noch einmal zurück, fragt woher wir kommen, Germania, er verabschiedet sich mit Handschlag und ich bekomme einen Handkuss!

Wir schauen uns den Goldenen Tempel des Buddha Shakyamuni an. Er wurde 2005 im tibetischen Stil errichtet. Im Gebetsraum befindet sich eine 11 m hohe Statue von Buddha und das Mönchsgewand des 14. Dalai Lama, des jetzigen. Der Tempel ist von einer Mauer umgeben, an denen unzählige bunte Gebetsfähnchen im Wind flattern. Die Wände sind bedeckt mit Fresken zu den zwölf Taten des Buddha und Berichten über sein Leben. Wir haben Glück, es findet eine Gebetsstunde statt. Der Tempel ist gut gefüllt, wir schauen und hören uns die Gebete an, die wir auch schon in der Mongolei gehört haben.

Die Kalmücken sind Nachkommen von mongolischen Nomaden, die im 17. Jahrhundert auf der Suche nach Weideland an die Ufer der Wolga gekommen waren. Die Russen hießen sie willkommen und ließen ihnen ihre ursprüngliche Lebensform dafür, dass sie die Grenze nach Süden kontrollierten. Im 18. Jahrhundert gerieten sie unter Druck durch russische und wolga-deutsche Siedler, die ihr Land an sich nahmen. In einer Winternacht unternahmen sie ihre zweite Flucht zurück in die Mongolei. Das Eis der Wolga war jedoch nicht stark genug, um sie zu überqueren. 20.000 von 160.000 Familien blieben zurück. Zwei Drittel der fliehenden Kalmücken wurden auf dem Weg durch Feinde getötet. Der Rest lebte relativ unbehelligt bis 1920, als die Bolschewiken die Tempel zerstörten, Mönche und Nonnen festnahmen und das Vieh beschlagnahmten. Ein Grund, warum während des Zweiten Weltkrieges sich einige Kalmücken Hitlers Soldaten anschlossen. Nach dem Krieg rächte sich Stalin, indem er alle Kalmüken inkl. Parteimitgliedern und Polizisten in Viehwagen nach Sibirien transportieren ließ. 1957 erlaubte Chrutschow den überlebenden 93.000 Kalmücken, in ihre Heimat zurück zu gehen. Weniger als die Hälfte kamen zurück, der Rest blieb in den Gulags Sibiriens zurück. 199

 

3 wählten die Kanuten ihren ersten Präsidenten, einen 31-jährigen Multimillionär mit einem Faible für Schach. Er baute das Land wieder auf, der Dalai Lama besuchte den Tempel mehrere Male.

Die Stadt ist geprägt von buddhistischer Architektur. Wir sehen Tempel in kleinen Dörfern. Im Nirgendwo findet Alex eine Werkstatt, die tatsächlich den fehlenden Federring für den neuen Reifen hat. An einem Schilf umstandenden See halten wir zwecks Abkühlung unseres Hundes. Ein Armeelaster kommt dazu, der Fahrer in Badebüx wäscht im See seine Klamotten. Weiter Steppe.

Unterwegs sieht Alex plötzlich ein Kamel! Wir hin. Ein Kamelwagen mit Großmutter und Enkelin, der alte Mann ist stolz auf seine schönen achtjährige Stute. Reiten will ich lieber nicht, bezahle auch so den Preis. Das männliche Fohlen trägt einen eisernen Nasenring, die Mutter nicht. Während Alex der Großmutter eine Melone bringt – kommt gut an -, versuche ich den Großvater zu interviewen. Ich verstehe, dass sie das Kamelfleisch essen und er weiter weg noch einige Tiere hat. Das hat mir schon lange gefehlt, ein Kamel in der Steppe!

Die 45-Denkmäler sind manchmal schon etwas bizarr – Pick-up mit Kanone!

Nach weiteren 2 Stunden erreichen wir Wolgograd, als ein richtiger Platzregen einsetzt. Die Straßen sind sofort überflutet, die Gulis laufend über, die Autoreinigung ist umsonst..

Wir beschließen, zum Weltkriegsfriedhof nach Rossoschka weiterzufahren, der ca. 30 km westlich von Volgograd liegt.