Wir sind endlich wieder an der Ostsee.

An der Küste haben wir das hübsche Palanga erreicht. Ein Urlaubstraum mit kleinen Geschäften in restaurierten Holzhäusern, alte Villen als Hotels und edle Restaurants, eine Fußgängerzone mit einfach allem und ein Bernsteinmuseum mit über 20.000 Exponaten in einem alten Palast. Schon zu, als wir da waren, hätte ich mir gerne angeschaut. Es ist alles voller Menschen, wir fahren weiter. Einige Kilometer weiter finden wir im Dörfchen Karkle eine Waschmaschine nebst Campingplatz. Nehmen wir. Es ist schon dunkel. Ein paar große deutsche Womos, die älteren deutschen Herrschaften sitzen in einer Holzlaube im Gespräch, als wir daneben parken. Wir grüßen freundlich, die Reaktion wirkt etwas kühl. Am nächsten Tag schaut sich unser Nachbar die Minna genauer an und wir geraten ins Gespräch. Nix mehr kühl! Der Syker mit wunderschönem norddeutschen Akzent ist 85 Jahre alt und seit 56 Jahren mit diversen Womos in Gruppen in der ganzen Welt unterwegs gewesen! So fuhr er auch mit seiner Frau noch rund ums Mittelmeer – nicht nur Marokko, auch Algerien, Libyen, Israel, Libanon und Syrien. Da träumen wir heute doch nur von! Jetzt geht es nicht mehr, sie werden aufhören müssen, er leidet sichtlich!

Später fahren wir die Küste entlang bis nach Klaipeda, dem einzigen großen Hafen Litauens. Bis 1925 hieß die Stadt Memel, der Deutsche Orden hatte sie1252 gegründet. Im Vertrag von Versailles wurde sie mit ein bisschen Land von Haff und Nehrung internationales Gebiet, bis Litauen 1923 alles wieder einkassierte. Dann kam Hitler, machte einen U-Boot-Stützpunkt aus draus, drum wurde schließlich alles im Krieg zerstört. Neuanfang und -besiedlung, Restauration, Universitätsgründung. Heute lebt die Stadt sehr gut vom Schiffsbau, Fischfang und Tourismus. Wir landen im Hafen und finden die alte Ordensburg oder besser ihre grünen, vom Graben umgebenen Reste. Im Hafen zieht auf dem Fluß Dane, der ins kurische Haff mündet, ein großes Containerschiff vorbei. Das kommt aber raus aus dem Haff, da die Stadt nicht fest mit der Nehrung verbunden ist. Auf der Anlegestelle stehen mal wieder ein paar Skulpturen herum, für die Litauen so berühmt ist, ein Junge mit Hund, der den Schiffen nachwinkt. Namkha kennt das inzwischen, sie geht kurz rüber, bellt sie aber nicht mehr an und geht weiter. Das Stahlgerüst der alten Schiffsbauhalle mit der Slipanlage macht sich gut in dieser Seglerecke.

Nicht weit von hier setzen wir mit der Autofähre auf die Nehrung über. Ticket kaufen und rauf auf die Fähre, Tempo Tempo. Schon fährt sie ab, die nächste kommt uns schon entgegen. Der Preis von 25 € für 5 Minuten Wasserüberquerung inklusive Rückfahrt liegt deutlich über den Fährpreisen von Saremaa in Estland… Ein paar Kilometer weiter haben wir noch einmal 15 € zu zahlen. Besucher- inklusive Parkgebühr. Eine gute Geldeinnahme für die Pflege des empfindlichen Biotops des Nationalparks Kurische Nehrung.

Der Park wurde es 1991 gegründet und umfasst auch das Haft und die Küstengewässer. Er macht etwa 70 % der Halbinsel aus, hier leben Hirsche, Wildschweine und Elche. Wir werden diese Viecher wieder nicht sehen! Vier Dörfer, die Menschen leben vom Tourismus. 1,5 Millionen Besucher pro Jahr sind eine schwere Belastung für die Umwelt hier.

Eine zweispurige Straße zieht sich über die gesamte Länge der Nehrung bis nach Nida und drei Kilometer noch weiter bis zur russischen Grenze, die die Nehrung halbiert. Hin und wieder gehen links und rechts kleine Stichstraßen zu Stränden oder zu den zwei kleineren der vier Orten ab. In Juodkrante liegt die Hauptstraße zum Haff hin an der Bernsteinbucht entlang, aus der 1854, 1855 und 1860 2250t Bernstein gefördert wurden. Wir trinken Kaffee auf einer Terrasse und genießen den traumhaften Blick auf das Haff, das hier 1,5km breit ist. In Preila am Strand hinter den kleinen Holzhäusern – Feriendomizile – jagt Namkha ein paar Möwen.

Als wir in Nida ankommen, beginnt sich der Himmel zu verfärben. Hier hat Thomas Mann mit seiner Familie zwei Jahre lang den Sommer verbracht, bevor er 1933 ins Exil in die USA gehen musste. Viele Holzvillen mit Gärten, eine schöne Strandpromenade. Am Hafen kämpft eine Waschmaschine für die Kunst. Im kleinen Pavillon dahinter stellt ein Künstler eindrucksvolle Sprühbilder aus. Die Boote kommen zurück in den Hafen. Ein altes Holzschiff vor der Weißen Düne. Im 16. Jahrhundert geriet der Sand der Nehrung durch massive Rodungen im Bewegung. Er wanderte 20m im Jahr und verschluckte 14 Dörfer. 1768 begann die Wiederaufforstung, große Wälder entstanden, aber der Sand wandert weiter. Ein Meter pro Jahr schiebt sich die Nehrung auf die Ostsee raus.

Ich möchte den Sonnenuntergang sehen und wir fahren von Nida zurück auf die Westseite. Eine Düne, Strand, eine kleine Bar mit Terrasse und ein Aperol-Spritz. Namkha tobt im Sand. Ein schöner Sonnenuntergang!

Vor Silute gegenüber von Nida auf dem Haff kaufen wir in einem kleinen Dorfladen ein. Da wir unseren aktuellen Hocker, den schönen Bierkasten aus Estland, trotz Zählens schon wieder irgendwo zurückgelassen haben, sind wir scharf auf einen neuen. Die Verkäuferinnen können kein Englisch, eine Dame im schwarzen Kleid mit blonden Haaren, und passend dazu Brille, Ohrringe und Turnschuhe in Rot hilft mir. Ich verstehe, dass sie Verkäuferinnen verpflichtet sind, die Kästen zurückzugeben. Alles klar. Ich mache der Dame noch ein Kompliment zu ihrem schicken Outfit. Kommt sehr gut an. Wir beschließen, das nächste Mal einen ganzen Kasten Bier zu kaufen und die Pullen einfach zu verschenken.

Dann fahren wir über kleine Nebenstraßen Richtung Osten. Und wieder sehen wir in den Gärten, auf den Wiesen, die Straße entlang die Apfelbäume in voller Pracht der gelben und roten Äpfel. Es muß bei uns mal wieder Apfelpfannekuchen! Unterwegs eine kleine Sammlung merkwürdiger Holzskulpturen. Alex ist überglücklich, als ihm an einer Tankstelle der alte Tankwart ohne weiteres Nachfragen die letzte leere Gasflasche füllt. Er hat einen speziellen Adapter zwischen Autogaspistole und Gewinde unserer Gasflasche. Ginge in Deutschland gar nicht!

Wir kreuzen mal wieder den Nemunas, auch als die Memel bekannt. Unterwegs sehen wir eine Tupperware mit Europakarte auf der Rückseite, die mir bekannt vorkommt. Der Göttinger aus dem Yachthafen auf der Insel Huimaa in Estland! Wir fahren neben ihn, große Freude allerseits. Bevor wir uns an der Bushaltestelle festquatschen, gehen wir zusammen einen Kaffee trinken. Ludwig hat eine ähnliche Tour gemacht wie wir und ist jetzt ebenfalls auf dem Heimweg. Vielleicht treffen wir uns ja wieder.

Es geht weiter. Unterwegs entdeckt Alex ein Fahrrad mit selbsteingebautem Motor. Heute sehe ich schon wieder einen Melkstand auf einer Wiese stehen. Vor drei Tagen hatte ich schon beobachtet, wie auf diese Weise sechs Kühe gemolken wurden. Das gibt’s bei uns schon seit 30 Jahren nicht mehr. Wer bei uns nicht mindestens 100 Kühe im Laufstall hat, geht unter. Einmal sah ich hier, wie eine Frau eine Kuh mit der Hand melkte. Und jetzt erlebe ich noch, wie eine Kuh von einer Frau über die Weide geführt wurde. Als Kuh würde ich wohl lieber in Litauen leben…

Wir kommen in Kaunas an. Die Stadt mit den vielen Studierenden liegt am Nemunas und wurde im 13 Jahrhundert gegründet. Bis zum 15. Jahrhundert kämpfte sie heftig gegen den Deutschen Orden im Westen Litauens. Zwischen den Weltkriegen, als Vilnius zu Polen gehörte, war Kaunas kurz die Hauptstadt Litauens. Die Stadt war so wichtig, dass sie schon vor dem Zweiten Weltkrieges dreizehnmal zerstört wurde. Wir fahren wie immer zur Altstadt und können wie immer dort unsere Minna parken. Das alte Rathaus im Zentrum des großen Platzes, die rosa weiße Franziskanerkirche, Studierende, die das perfekte Foto suchen. Weiter hinten denkt der Dichter und Priester Mauronis aus Kaunas, der zu Beginn des letzten Jahrhunderts das Nationalgefühl der Litauer weckte, auf seinem Sockel vor dem ihm gewidmeten Museum sichtlich nach. Die alten deutschen Kaufmannshäuser aus dem 15. und 16. Jahrhundert, dahinter der Turm der Peter-und-Paul-Kathedrale, auch so alt. Die Straßencafés sind voller Leute, vor allem jungen. Auf der Terrasse der Chocoladerie löffeln wir eine Tasse von dem köstlichen Namesgeberzeug – jeder eine! – und gucken Leuten zu. Wir sitzen an der Flaniermeile! Diese Stadt gefällt mir sehr! Hier gibt es ein Museum für Deportation und Widerstand zur Geschichte der Waldbrüder die bis 1953 vergeblich gegen die sowjetische Besatzer kämpften. Und das Sugihara-Haus, dass die Lebensgeschichte des japanischen Diplomaten Chiune Sugihara erzählt. Dieser stellte 1939 – 1940 polnischen Juden, die vor den heranrückenden Nazis geflohen waren, Transit Visa aus und rettete so mit Hilfe des niederländischen Diplomaten Jan Zwartendijk 6000 Juden das Leben. Als die Sowjets Litauen besetzten, ließen sie alle Konsulate schließen. Suigara blieb gegen den Willen Tokios, stellte in den folgenden 29 Tagen pro Tag weitere 300 Visa aus und gab dann den Stempel an einen jüdischen Flüchtling weiter. Beeindruckend!

Abends stehen wir hinter Kaunas wieder an einem dieser wunderbaren Plätze mit einem kleinen Strand, vielen Bäumen, Holzbänken und einer Feuerstelle, die es so bei uns leider nicht gibt. Hier leben einfach viel weniger Menschen! Namkha gibt sich nur noch mit den größten Hölzern zufrieden. Die Frische springen, es wird langsam dunkel. Am nächsten Morgen sehe ich rechts am See eine Gruppe von Reihern im Wasser stehen. Eine ganze Kolonie hat in einem Baum dahinter übernachtet.

Vilnius – ein Traum mit einer der größten barocken Altstädte europaweit. Der Ort, an dem die Stadt steht, war schon vor 1700 Jahren besiedelt. Im 13. Jahrhundert ließen sich auf Einladung des Großfürsten Gediminsa 3000 Juden in Vilnius nieder. Die Burg auf dem Gediminsa-Berg schützte die Stadt im 14. und 15. Jahrhundert vor den Angriffen der Ritter des Deutschen Ordens. Im 16. Jahrhundert war Vilnius eine der größten Städte Osteuropas. Im 19. Jahrhundert begann die Industrialisierung und Vilnius war das Zentrum der jiddischen Sprache in Europa.

Vor Beginn des ersten Weltkrieges lebten 100.000 Juden in Vilnius, in ganz Litauen insgesamt 240.000. Zwischen den Weltkriegen, als Litauen zu Polen gehörte, wurden Juden diskriminiert und sie verarmten, viele verließen die Stadt. Trotzdem wurden hier noch 1925 das Hauptzentrum der Organisation für jiddische Sprache eröffnet. Es gab 104 Synagogen und sechs jüdische Tageszeitungen. Als die Nazis in Vilnius eintrafen, erschossen sie innerhalb von drei Monaten im Wald von Paneriai 35.000 Juden. Dabei sollen auch Litauer geholfen haben. Die übrigen Juden wurden in ein Getto gesperrt, das nach wenigen Wochen aufgelöst wurde. 11.000 Bewohner wurden zwischen dem 6. September und dem 20. Oktober 1941 ebenfalls in Paneriai ermordet. Ein zweites großes Getto für Zwangsarbeiter wurde wie alle Kriegsgettos auf Befehl Himmlers 1943 aufgelöst. 26.000 Insassen wurden in Paneriai getötet, 10.000 in Konzentrationslager verschleppt. Etwa 6000 Vilnius-Juden konnten fliehen. Mitte der achtziger Jahre, in der Perestroika-Phase, siedelten noch 6000 Juden nach Israel über. Heute leben in Litauen wieder etwa 5000 Juden, davon 80 % in Vilnius. 2001 wurde das Jiddische Institut an der historischen Fakultät der Universität von Vilnius gegründet.

Wir stehen mit der Minna mittendrin auf dem Rathausplatz! So viele Menschen! Alex hat so viel zu schauen, dass ich alleine losziehe. Die zentrale Altstadtstrasse Pilies gatve entlang, die voller junger Menschen ist. Gleich um die Ecke gehe ich in den Campus der 1579 gegründeten Universität von Vilnius. Im großen Hof bewundere ich die Johanneskirche, die schon 1387 gebaut wurde. Die Universität hat 23000 Studierende und die älteste Bibliothek Litauens mit 5 Millionen Büchern. Sie hat 13 Innenhöfe, ich verliere mich darin, streife durch die Gänge und lande dann über einen weiteren kleinen Hof in einer winzigen Kneipe. Ein Pub mit Ausgang auf die Pilies g! Ich entdecke Innenhöfe hinter alten Häusern voller kleiner Geschäfte. Schließlich lande ich auf dem Kathedralenplatz.Die klassizistische Kathedrale – der letzte Umbau – steht an der Stelle, an der Perkunas, der litauische Donnergott verehrt wurde. Die Sowjets nutzten sie als Gemäldegalerie. Immerhin keine Werkstatt… Der einzeln stehende Glockenturm ist 57m hoch. Dahinter ist der Ziegelturm zu sehen, der auf dem Berg Gedimanus steht.

Irgendwann lande ich wieder auf dem Rathausplatz beim Schatz, wir trinken Kaffee und schauen umher. Eine kleine bunt geschmückte und mit Taschen beladene Frau bettelt sehr charmant uns an. Nach etlichen Trinkgeldern die sie bei uns und anderen eingesammelt hat – Hand und Gesichtszüge sahen wie die von einem Mann aus! – geht sie an den Ausschank auf dem großen Platz und wechselt offensichtlich das Kleingeld in einen Schein um. Dann setzt sie sich mit einem Bier an den Tisch, zählt, genießt und hält schließlich ein Nickerchen. Eine tolle Vorstellung! Die Nachmittagssonne lässt die orthodoxe Sankt Nikolaus-Kirche mit dem spitzen Ziegeldach leuchten. Wir möchten uns gerne noch die Choral-Synagoge anschauen, die einzige, die die Zerstörung der Nazis überlebt hat, sie ist aber leider zu.

In Trakai, 20 km westlich von Vilnius, wollen wir einen Platz für die Minna am See finden. Der Ort ist richtig niedlich mit seinen vielen hübschen Holzhäusern und mitten im Galve-See auf einer Insel die restaurierte gotische Inselburg aus Backstein. Sie stammt wahrscheinlich aus dem 14. Jahrhundert. Sehr hübsch anzusehen! Um den See herum finden wir eine kleine Ansammlung von Holzskulpturen und eine für Alex optimal geeignete Schaukel!

Wieder ein schöner Stellplatz am See! Wir parken neben einem mit Palmen bemalten kleinen Womo. Vater mit Tochter in deren Semesterferien im Baltikum on tour. Die Palmen von Marokko wären der Traum! Morgens gehen sie Schwimmen. Tapfer!

Es geht weiter. In Aukstadvaris steht eine hohe Holzkirche mit zwei Türmen! In Prienai fahren wir mal wieder über den Nemunas. Wir sind nun schon eine ganze Weile an diesem breiten Fluss unterwegs. Zwischendurch lassen wir Namkha mal wieder über die Wiesen rennen. Dazu haben wir auf einem Feldweg geparkt, sind ausgestiegen und in richtig quietschend lehmigem Boden gelandet. Der hat sich richtig über die Schuhe gefreut! Deswegen benötigen und finden wir schließlich einen See, um mit Hilfe von Stöcken und Nagelbürste – eine wirkliche Allzweckwaffe – die Schuhe wieder sauber zu bekommen. Das wäre hier ein schöner Platz zum Bleiben!

In Marijampole suchen wir einem super Supermarkt mit Elektroabteilung. Der Umwandler in der Minna ist verreckt und um Strom für meinen Laptop zu bekommen, brauche ich ein neues Ladegerät für 18 V. Das alte liegt zu Hause in der Schublade… Wir werden fündig. Alles wieder gut!

Jetzt verlassen wir Litauen und damit das Baltikum. Estland, Lettland und Litauen sind sich so ähnlich und doch wieder völlig verschieden. Drei Länder mit einer sehr bewegten Vergangenheit, so schönen Hauptstädten, so viel Strand, Wald, Sonne und Meer! Wir haben das Baltikum sehr ins Herz geschlossen. Es war eine wunderbare Zeit hier!